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Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?
Welche Metropole hat die fürchterlichsten Huster im Konzert? Vielen Wiener Künstlern würde zu dieser Frage wohl zuerst die Donaustadt einfallen. Im Wiener Musikverein brach der Pianist Alfred Brendel einmal nach einer Serie katarralischer Explosionen im Publikum ein Konzert mit den Worten ab: "Ich höre Sie. Aber ich bin nicht sicher, ob Sie mich hören."
Das Erbe des in dieser Hinsicht hochempfindlichen Brendel, der soeben in Wien seine Konzertkarriere beendet hat, scheint indes gesichert. David Fray, trotz Schmalzlocke und lyrischer Gesamterscheinung ein Pianist von exzentrischer Dünnhäutigkeit, vollbrachte in Madrid kürzlich wahre Kunststücke der Unduldsamkeit. Jeden Huster im Parkett während seines Klavierabends im Teatro de Zarzuela verfolgt er mit ermahnend bohrendem Blick. Beharrlichere Anfälle quittiert er mit Kopfschütteln und Fassungslosigkeit. Endlich geht er grußlos vom Podium ab, um über Lautsprecher verkünden zu lassen, man möge doch bitteschön "sehr, sehr leise sein". Dann folgt Bach.
Für Bach, diesen Hausheiligen des französischen Zartgemütes (und Schwiegersohnes von Riccardo Muti), lohnt sich das Stillsitzen durchaus. David Fray, der Bach erst vor vier Jahren entdeckte und eher mühsam, wie er sagt, für sich erobert hat, ist heute der vielleicht inspirierteste, in jedem Fall originellste Bach-Spieler seiner Generation. Vergessen Sie Stadtfeld! Lassen Sie Schiff und Perahia ihrer Wege ziehen. David Fray entdeckt mehr psychologische Tiefenschärfen, prallere Geschichten und feinere Emotionen in Bach als seine Kollegen. Hier ist der vielleicht erste, echte Neuaufbruch zur Klaviermusik des Barock seit Glenn Gould.
Mit dem kanadischen Konzertflüchtling ist Fray denn auch sattsam verglichen worden. Er mag Gould nicht einmal sonderlich. Und hat außer der krummen Haltung, dem beiläufigen Singen und einer Schwäche für einen Lehnstuhl als Sitzgelegenheit rein gar nichts mit Gould gemein. Dessen Bach war knopfartig pochend, rhythmisch auf der Stelle tretend und gewiss genial. Frays Ansatz ist gesanglich, flexibel, elegant und beseelt von kultivierter Belcanto-Ästhetik. Vielleicht altmodisch, mag sein. Fray ist zufrieden, für die Dogmen der historischen Aufführungspraxis zu spät gekommen zu sein und die Sache gelassener anzusehen. Sein Vorbild ist der deutsche Beethoven-Feingeist schlechthin: Wilhelm Kempff.
Mit Bachs Klavierkonzerten - deren Aufnahmesitzungen der französische Filmemacher Bruno Monsaingeon in dem Film "Swing, Sing & Think" dokumentierte - hat er schon heute einen Katalogklassiker geschaffen, an den nicht einmal Gould, der berühmte Vorgänger, ohne weiteres heranreicht. Es ist durchaus nicht einfach, mit diesen Werken Eindruck zu machen, bei denen das Klavier meist wie eine Nähmaschine mitläuft. Fray traktiert sie wie romantische Solistenkonzerte, denkt sie aber wie Kammermusik. Ihm ist die schroffe Rhetorik des Barock schnurz. Er subjektiviert mit Macht. Und gewinnt.
Der 1981 in Tarbes geborene Sohn eines Kant-und-Hegel-Forschers und einer Lehrerin (mit tschechisch-polnisch-finnischen Wurzeln) begann mit vier Jahren Klavier zu spielen weil man das Instrument für seinen Bruder angeschafft hatte. Den Klavierlehrer, Jacques Rouvier, teilte er mit Hélène Grimaud. Die drei Schallplatten, die er zu Hause im Schrank fand, darunter Karl Böhms Aufnahme des Mozart-"Requiems", eine CD über Schuberts Leben und das nun schon! Goulds Aufnahme der "Goldbergvariationen" hält er bis heute heilig. Eine Aufnahme von Bachs Variationen-Hauptwerk weist er weit von sich aus kühler Anerkennung.
Überhaupt kultiviert Fray seine Abneigungen. Debussy möchte er nie spielen. Chopin so wenig wie möglich. Die russische Schule von Tschaikowsky, Rachmaninoff und Prokofieff sei überhaupt nichts für ihn, bekennt er. Das sind erfrischende Töne, die man von jungen Pianisten, die alles können wollen, selten hört. Auch bei Gould, so Fray, spüre man ständig "den Willen, es zu zwingen". Das sei nichts für ihn. Fray lässt atmen, blühen, vergehen. Er beansprucht, nach jedem Ton erst dann einen zweiten folgen zu lassen, wenn er den Sinn des ersten kapiert hat. Ein Langsamspieler? Nein, eher ein Schnelldenker im Langsamkeitsrausch.
Als er einst einen Meisterkurs bei dem legendären russischen Klavierlehrer (und Barenboim-Schwiegervater) Dmitri Bashkirov belegte, sagte der ihm: "Bellen Sie wie ein großer Hund!" Das sei ein Befreiungsschlag gewesen, sagt Fray, der zuvor allzu ängstlich um seinen Klavierklang besorgt war. Der singende, tastende und dennoch erzählerisch auftrumpfende Klavierstil von David Fray gehört einem der unabhängigsten Klaviergeister der Gegenwart. Fray spielt den aufregendsten Bach seit Jahrzehnten. Übrigens war Fray mittlerweile beim Friseur. Die Schmalzlocke ist kürzer geworden.
CD "J. S. Bach: Keyboard-Concertos BWV 1052, 1055, 1056, 1958". David Fray, Klavier; Deutsche Kammerphilharmonie Bremen (Virgin 213064 2).